Im Wandel der Zeit
Band 10 der Darken Saga erscheint am 28.06.2019 im Handel
Während Darken versucht das Uranlager aus dem Irak zu schaffen, findet Doc eine verwundete Frau im afrikanischen Busch und ahnt nicht, welche Verwicklungen er damit auslöst.
Schüsse fallen und Sirona geht schwer verletzt zu Boden.
Teutates hingegen löst einen internationalen Konflikt mit dem amerikanischen Präsidenten der Vereinigten Staaten aus.
Alessandra Natascha von Gohlen saß kerzengerade an ihrem Arbeitsplatz und zeichnete die Linien der Robe nach, die sie gerade für die Mezzosopranistin Gloria Dante entwarf.
Das Kleid bestand aus einem Unterkleid, welches im Rücken gerafft wurde. Dessen Dekolleté war mit einem weißen, hauchdünnen vierreihigen Volant umfasst, der sich fließend abwärts zu beiden Seiten bis zum Saum ausbreitete. Über diesen zarten Stoff wurde ein Oberkleid getragen, das nur in der Mitte unter der Brust durch eine prunkvolle Brosche zusammengehalten wurde und dadurch weit auseinanderklaffte. Das Überkleid war in glänzendem lachsfarbenem Chiffon gehalten, der nach hinten in einen Kupferton auslief.
Sehr schön, der dunkel auslaufende Stoff sorgt für eine schmale Taille. Der Volant für ein üppiges Dekolleté und der Lachston wird den leicht gebräunten Teint der Südamerikanerin hervorragend unterstreichen, dachte Alessandra, die sich selbst gern Tascha nennen ließ. Sie verlängerte die Ärmelenden noch etwas nach unten und überlegte weiter, ob sie am Ende der Ärmel und des Ausschnittes noch goldene, verschlungene Bordüren verwenden sollte.
Überzeugt lehnte sie sich zurück. In Gedanken sah sie ihren Entwurf bereits am Körper ihrer Kundin. Vor ihrem geistigen Auge erschienen wilde braune Haare, ein temperamentvoller Augenaufschlag. Und das gerade gezeichnete Kleid, das plötzlich einem abgetragenen Morgenmantel glich.
Ihr Blick heftete sich wieder auf die Skizze, ein Ruck und die Zeichnung segelte Richtung Papierkorb. Statt im Korb, landete der Entwurf jedoch in Geralds ausgestreckter Hand.
»Tascha, meine Liebe, was machst du?«
Erschrocken drehte sie sich um und sah in den verspielten Silberblick des hübschesten Mannes des ganzen Planeten. »Es ist tot! Es lebt nicht, riecht nach Vergangenheit, Verwesung!«, antwortete sie.
»Das ist Blödsinn! Es ist exzellent, wie all deine Entwürfe. Ich sehe die Dante bereits in dieser Robe vor mir. Sie ist wie für sie gemacht, wie immer, wenn du ihr etwas Persönliches kreierst.«
Tascha schnaufte. »Häng den Entwurf doch über deinen Schreibtisch und bewundere ihn von dort aus weiter. Mir ist er zu tot.«
Gerald sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Okay, ich hebe ihn für dich auf, denn du wirst ihn noch brauchen, Chérie.«
Ein Türklappern und Tascha war wieder allein.
Sie stützte den Kopf in ihren Händen ab, starrte das weiße Papier vor sich an.
Alessandra Natascha von Gohlen war mit ihren 31 Jahren bereits an der Spitze der Karriereleiter des Labels, für das sie arbeitete, angelangt. Als einzige Chefdesignerin dirigierte sie die Designer und acht Auszubildende, die ihr das Gefühl vermittelten, nur ein Vorbild zu besitzen, SIE! Steckte sie sich ihre Haare hoch, hatten bis zum Mittag einige der Mädchen um sie herum dieselbe Frisur. Spätestens am nächsten Tag war sie dann vollständig von Plagiaten umringt.
Trug sie Rock, trug man Rock. Trug sie Dutt, trug man eben an diesem Tag Dutt. Auch heute erkannte Tascha, dass die Kleidung der Auszubildenden eine erschreckende Ähnlichkeit mit dem Inhalt ihres eigenen Kleiderschrankes besaß. Natürlich stimmten Qualität und Details nicht, aber die Mädchen bemühten sich. Es schien, als bestünde ein geheimer Wettkampf darin, mit der eigenen Erscheinung ihrem Ebenbild am genauesten zu entsprechen. Früher hatte sie Gefallen daran gefunden, nahm es oft zum Anlass, immer unkopierbarer zu werden. Was mit den Haaren und der Kleidung begonnen hatte, breitete sich inzwischen auf ihren gesamten Charakter aus.
Tascha machte aus ihrem Stolz keinen Hehl, wusste sie doch, was sie für das Label bedeutete. Es war nicht ihr Stil, sich oder ihren Erfolg zu verstecken. Die Tatsache, dass einige der Kollegen sie für arrogant, überheblich oder oberflächlich hielten, wertete sie keinesfalls als Makel. Für sie war das eine Auszeichnung. Mir das Wasser reichen zu können, ist für alle hier ein unerreichbares Ziel.
Der Preis war hoch, das wusste sie. Damit die Kollegen ihr Ziel nie erreichten, arbeitete Tascha zwölf bis vierzehn Stunden am Tag, oft sieben Tage die Woche. Ich bin eine der Besten und nur das zählt. Um dies zu bleiben, war ihr jedes Opfer recht, es ließ sie auch die Plagiate um sich herum ertragen.
Tascha warf ihre offenen ebenholzdunklen Haare über die Schulter und schürzte die Lippen. Gerald nannte sie oft sein kleines Schneewittchen, da ihre dunkle, gewellte Mähne einen ausgeprägten Kontrast zu ihrer weißen Haut bildete. Der kräftige rote Lippenstift, den sie trug, rundete das elegante Bild einer immer perfekt aussehenden, leicht glamourösen Diva ab.
Nach einer kurzen Bedenkpause griff sie nach Grün und Braun. Konzentriert begann sie mit dem Umriss einer weiteren Robe. Doch dann stöhnte sie auf, schloss die Augen und stützte den Kopf ab. Tod, Starre, ein ungepflegtes Grab, das Grün wirkte verbraucht.
Ohne, dass sie darauf einen Einfluss zu haben schien, starrte sie plötzlich in das giftige Grün eines Augenpaares, welches zu einem Leoparden gehörte. Sie erkannte, wie hellbraune Töne darin das Sonnenlicht reflektierten. Wie aus einer anderen Welt spürte sie eine warme Wange an ihrem Gesicht und roch Ingwer.
»Chérie, setz dich nicht so unter Druck.«
Erschrocken riss Tascha die Augen auf und sah Gerald an. Dieser hatte sich tief zu ihr hinuntergebeugt, um ihr einen frischen Ingwertee auf den Tisch zu stellen. Sie liebte Ingwertee und sie liebte Gerald. Es gab keinen Menschen auf der Welt, der so viel von ihr wusste wie er, und es gab niemanden außer ihm, zu dem sie unter die Bettdecke kriechen würde, wenn sie zweifelte. Tascha stöhnte leise.
Zärtlich schloss er seine Arme um ihren Oberkörper, drückte ihr einen liebevollen Kuss auf die Wange und flüsterte: »Barney will für mich carnad a lorange kochen. Ich denke, ich muss dich heute Abend mit nach Hause nehmen, du gefällst mir so ganz und gar nicht. Und bitte keine Ausreden! Du kommst mit, pünktlich um 18:00 Uhr, ich werde dich hier abholen!«
Tascha seufzte. »Gerald, warum müssen die besten Männer immer schwul sein? Ich hätte dich so gern geheiratet.«
Er sah sie ernst an. »Mein Engelchen, denkst du, ich wäre dumm? Ein Mann mit heterosexuellen Neigungen käme keine hundert Meter an dich heran, hör also mit dem Blödsinn auf.« Er küsste ihr zum Abschied noch einmal liebevoll auf das Haar.
Tascha schluckte und griff nach dem Tee. Gerald hatte recht, sie sollte froh sein, dass er schwul war, sonst stünde sie womöglich ganz allein an der Front.
Der Gedanke an das Grün/Braun ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Einen Leopard im hohen Gras, mit giftgrünen Augen, den müsste sie in eine Komposition bringen. Kein abgestoßenes Efeugrün, welches kurz vor dem Vertrocknen stand. Tascha sackte erschöpft über dem Zeichenblock zusammen.
»Gibt es Probleme?«
Die barsche Stimme von Karl Dorin ließ sie hochfahren. Karl war der geschäftsführende Gesellschafter des Labels und unangefochtener Throninhaber. Er war Stratege, man sagte ihm nach, dass ihm jedes Mittel recht war, die Nummer eins am Modehimmel zu werden. Tascha war dabei seine Geheimwaffe, die er schonungslos einsetzte und beinahe verloren hätte. Er hatte versucht, sie durch sexuelle Annäherungsversuche zu noch höheren Leistungen anzuspornen. Nur sein Gelöbnis, auf Knien vor ihr, es niemals wieder zu wagen, sie auch nur versehentlich zu berühren, hatte sie damals dazu bewogen, das Label doch nicht zu verlassen. Diese Demütigung hatte er ihr jedoch nie verziehen.
Dass er auf sie angewiesen war, machte es nicht leichter.
Tascha hätte niemals so sortiert oder diplomatisch arbeiten können wie er, dafür gehörte sie zu den Kreativen, den Lebendigen.
»Alles ist tot, ich brauche Leben, Sonnenreflexionen.« Mit einem Blick auf ihre Zeichnung stand sie auf. »Ich reise nach Afrika!« Tascha erschrak vor sich selbst, vor zehn Minuten hatte sie noch keinen Gedanken an Urlaub gehegt. Automatisch zog sie ihre Schutzschilde hoch, um den kommenden Gegenangriff von Karl abzufangen.
»Wann?«
Tascha stutzte. »Jetzt!«
Karl nickte. »Bleib nicht zu lange, in vier Wochen müssen die Entwürfe für die Dante fertig sein, du bist die Einzige, die dafür geeignet ist.« Nach einem intensiven Blickaustausch drehte er sich um und ging.
Tascha starrte ihm hinterher. Urlaub! Sie und Urlaub! Der letzte Ausflug mit Gerald und Barney war sieben Jahre her, damals waren sie zum Skifahren nach Österreich gefahren. Naja, es war nur ein verlängertes Wochenende. Wie schreibt man das Wort Urlaub eigentlich? Sie war schockiert von ihrer eigenen Verwirrtheit, aber dann reagierte sie rational.
Die Mitarbeiter mussten eingeteilt werden, den Auszubildenden gab sie die Möglichkeit, eigene Entwürfe für die Roben der Dante zu entwerfen.
»Ich möchte die Skizzen nach meiner Rückkehr beurteilen. Sollte etwas Vernünftiges darunter sein, könnte ich mir vorstellen, sie weiter auszuarbeiten.« Sie beobachtete, wie die Azubis ihre Chance witterten, einige waren ganz aus dem Häuschen.
Na, wenn die sich mal nicht zu viel einbilden.
Tascha fasste an diesem Tag keinen Stift mehr an.
Pünktlich um 18:00 Uhr war sie mit der Organisation ihrer Urlaubsvertretung durch und wartete entspannt auf Gerald.